Auszug aus Menschenstolz und Tierqualen

Das unten angeführte Inhaltsverzeichnis von Menschenstolz und Tierqualen von Johann F.  Volckmann ist das der überarbeiteten und ergänzten Ausgabe.

Inhaltsverzeichnis

  • Vorrede und Einleitung
  1. Das gefühlvollste Geschöpf in seiner Fühllosigkeit
  2. Versündigungen der Erzieher kleiner und großer Kinder
  3. Menschendünkel
  4. Menschenvernunft
  5. Vernunft und Instinkt
  6. Kunsttriebe
  7. Sprache
  8. Logik
  9. Billige Würdigung der Menschen- und Tiervernunft
  10. Rückblick auf die organische Ähnlichkeit und Verschiedenheit der Menschen und Tiere
  11. Philosophische In- und Konsequenzen
  12. Letzter Hinterhalt des Menschenstolzes
  13. Gang der menschlichen Vervollkommnung
  14. Nutzanwendung des Vorigen
  15. Beschluss
  • Zeitgenössische Kritik aus dem Jahre 1800
  • Rezente Schlussgedanken
  • Finale
Titelseite des Originals von 1799

Das gefühlvollste Geschöpf in seiner Fühllosigkeit

„Welche fromme und christliche Obrigkeit hat Sinn für diese Klage?“

Mitleid, Mitgefühl, Sympathie oder wie wir diesen Instinkt sonst nennen wollen, ist der gemeinschaftliche Stempel der Tierheit. Kein Tier ist gleichgültig gegenüber dem Geschrei und dem Stöhnen eines anderen Tieres seiner Gattung. Kein Pferd tritt auf einen lebendigen Körper, wenn es nicht muss. Und Krieger, die verwundet auf dem Schlachtfelde gelegen haben, können nicht beschreiben, wie möglichst behutsam die Pferde selbst im Schlachtgetümmel über sie hingegangen sind!

Bonnet sah mit seiner Gattin ein Papageien-Männchen seiner kranken Sie alle mögliche Hilfe leisten: Es trug ihr, da sie nicht mehr zu dem Futtertrögelchen kommen konnte, das Futter zu und fütterte sie vier Monate lang mit dem Schnabel. Es fasste sie, als sie für Mattigkeit nicht mehr auf die Stange des Käfigs fliegen konnte, beim Flügel, um sie auf diese Stange zu ziehen, auf der sie immer traulich beisammen gesessen hatten. Und als sie mit dem Tode rang, lief es unaufhörlich um sie herum. Es versuchte ihr den Schnabel zu öffnen und Futter hinein zu bringen, lief mit immer mehr zunehmender Ängstlichkeit hin und her, klagte und heftete dann mit tiefem Stillschweigen seine Blicke auf sie und lebte nach ihrem Tode, in steter Traurigkeit, nur noch einige Monate.

Wir brauchen aber nicht erst bei dem Naturforscher an den Käfig des Papageien zu treten, der unter dem Namen des Sperlings von Guinea bekannt ist und wegen seiner bekannten Gattenzärtlichkeit den Beinamen »Inséparable« führt, um die Äußerungen jenes Instinkts zu sehen – wir können es näher haben. Ein Tier, das alle Kinder kennen, dessen innerer Körperbau mit dem menschlichen Körperbau auffallende Ähnlichkeit hat und dessen Fleisch dem Gaumen gewisser Wortwähler ebenso willkommen ist, als sein Name ihren zärtlichen Ohren vielleicht anstößig ist – das Schwein – kann das härteste Ohr, das blödeste Auge von jener Sympathie überzeugen. Sobald diese Tiere ein anderes ihrer Gattung schreien hören, sogleich macht sich mit einstimmigem Feldgeschrei die ganze Heerde auf, dem Leidenden zu Hilfe zu kommen. Und wehe dem Beleidiger, wenn er nicht von seiner Gewalttätigkeit absteht! Blutige Rache sind sie von ihm zu nehmen im Stande.

Dass der Mensch nun auch ein Tier ist, ist wohl keine gewagte Behauptung mehr, seit mehrere unserer größten und darum auch bescheidensten Weisen ihn das gesellige Tier genannt haben. Auch den Menschentieren schenkte die Natur dieses Mitgefühl in der reichlichsten Fülle. Das Kind weint mit, sobald es seine Mutter oder ein anderes Kind weinen hört; es fällt den strafenden Eltern in die Rute, wenn es seine Geschwister züchtigen sieht. Selbst die Tränen, die der Mensch vergießen kann, sind der untrüglichste Beweis, dass das menschliche Herz am weichsten geschaffen ist:

Mollissima corda humano generi dare se natura fatetur, quae lacrimas dedit.

Wie oft aber geht dieses Mitgefühl bei Menschen gegenüber Menschen verloren! Und Sympathie, wo bleibst du, wenn unsere Mittiere seufzen? Auch für sie hat uns die Natur die Saite des Schmerzes zu gut aufgezogen, als dass wir nicht hören sollten, wie sie tönt – nicht fühlen sollten, wie sie zittert, wenn der getretene Wurm sich im Staube windet, wenn das angestochene Insekt an der Nadel zuckt. Und dennoch tut der Mensch nichts gewöhnlicher, nichts sieht er mit kälterem Blute an, als Tiere zu misshandeln. Jede hohe Schule stellt uns so genannte Schüler der Weisheit auf, die jene unglücklichen Tiere, die selten satt Futter bekommen, mit lachendem Mute tot reiten. Und wer hat nicht von den berüchtigten spanischen Stiergefechten, Wiener Tierhetzen und von so mancher Lust- und Parforcejagd gehört, an denen sich sogar zärtliche Damen zu belustigen pflegen?

„Wollen Sie mit?“, hörte ich unlängst bei meinem Aufenthalte in einer kleinen thüringischen Landstadt ein Mädchen ihre Nachbarin fragen, als ging sie zum Tanze – „Wohin?“ – „Zur Dachshetze“ – „Nein, ich mag sie nicht sehen“, versetzte die menschlichere Nachbarin. Jene aber ging und sah mit noch vielen anderen, denen man wohl nicht ohne Beleidigung ein gefühlvolles Herz absprechen dürfte, ein Tier, das nicht schnell laufen kann – das man von der Zeit seiner Gefangenschaft an hatte hungern lassen – und dem man, um den Hunden leichteres Spiel zu machen, auch noch die Zähne ausgebrochen hatte, so lange herum ängstigen und zerfleischen, bis der Tod sein Erretter war.

Welche verwüstende Hand untergräbt in dem Herzen des von Natur gefühlvollsten Geschöpft jenes Mitgefühl und pflanzt an seine Stelle diese Grausamkeit, die die Menschheit schändet?

Versündigungen der Erzieher kleiner und großer Kinder

„Für die Gründe der Menschlichkeit
hat die gewöhnliche Formulargerechtigkeit
keine Waagschale.“

Die nächste Ursache dieser Grausamkeit sowie den Ursprung jeder menschlichen Unart können wir gewöhnlich auf dem Mutterschoße finden. Auch die Grausamkeit der Menschen gegenüber den Tieren schreibt sich dorther.

Weil die Kinder als erstes und am meisten Sinn für die Tiere haben, so suchen sie die Mütter auch zuerst und am meisten damit zu belustigen, dass sie ihnen Tiere unter die Hände geben. Anstatt aber die natürliche Milde, die in ihrem ersten Schlummer der kindischen Unvorsichtigkeit noch nicht das Gleichgewicht hält, zu wecken, lassen sie ihre Lieblinge mit diesen Geschöpfen umgehen, wie sie wollen. „Die Mütter“, sagt Montaigne, „finden sogar ihren eigenen Zeitvertreib darin, zu sehen, wie ihre Kinder einem Huhn gar den Hals umdrehen, oder wie sie sich erarbeiten, um einem Hund oder einer Katze einen Streich zu versetzen. „Sie reizen sie sogar dazu und lehren sie über die Schmerzen lachen, die sie den Tieren verursacht haben: ja, eine gewisse Mutter, die ihrem Kinde einen Sperling zur beliebigen Qual übergeben hatte, ging in den Mitteln, den kleinen Abgott über die Schnabelbisse, womit sich der Sperling gegen die Gewalttätigkeiten des kleinen Peinigers verteidigte, zu beruhigen, soweit, dass sie dem Vogel den Schnabel wegschnitt, dass er nicht mehr beißen, aber auch nicht mehr fressen konnte und sonach jämmerlich verschmachten musste.

Diesen Keim von Fühllosigkeit und Tücke, den verkehrte Mutterzärtlichkeit zum Spaße pflanzte, nehmen nun auch die Väter in die Pflege, und in dieser Schule lernen die Kinder die Lasttiere mit Verachtung und Härte und andere Tiere, die die Natur mit auf uns Lebensmittel angewiesen hat oder die unserer Einbildung nach nur ein widriges Ansehen haben, mit Rache und Wut behandeln. Selten werden diese Tiere, wenn sie unglücklicherweise in Menschenhände geraten, auf der Stelle getötet. Sondern man brennt ihnen entweder erst die Schwänze ab oder nagelt sie lebendig an die Türen oder auf Bretter und lässt sie so zum unterhaltenden Schauspiele für Kinder langsam zu Tode zucken. Sogar ein gewisser Geistlicher tötete die in der Falle gefangenen Mäuse mit brennendem Siegellack zu seinem Vergnügen, an welchem auch seine zahlreiche Familie teilnahm. Und mit diesen und ähnlichen Beispielen der Härte und Grausamkeit ersticken auch die Väter den allenfalls noch übriggebliebenen Funken von Mitgefühl gegen die leidende Tierheit.

Menschendünkel

„Siehe, um meinetwillen ist der Mensch da!“

Von jeher hat der Mensch mehr von sich gehalten, als er sollte: Eigendünkel, wer ist frei von dir? Und wenn wir mit diesem Eigendünkel unsere eigenen Schätzer werden, müssen wir uns dann nicht notwendigerweise in unserem Werte irren? Müssen wir bei unserem unleugbaren Hange zum Aberglauben nicht am liebsten abergläubisch an uns selbst werden? Das ist aber gerade der schädlichste Aberglaube, der uns in Ansehung unserer Mittiere blendet, der uns zum Menschenstolz verführt und in den Qualen schuldloser Tiere belügt.

Stolz ist der Grund von jeder Geringschätzung eines anderen und mithin auch von jeder Beleidigung und Misshandlung, die wir uns gegen ihn erlauben. Aus Monarchenstolz glaubten Frankreichs Könige, dass Millionen ihrer Brüder bloß um ihretwillen da wären. Dass sie sie folglich nach Belieben drücken und aussaugen, dass sie Tausende davon um einer einzigen Laune willen aufopfern dürften. Aus Adelsstolz sagte jene Gräfin bei der Seuche, die im siebenjährigen Kriege zu Breslau hundertundzwanzig Menschen täglich wegraffte: „Gott sei Dank! Der hohe Adel bleibt verschont, nur der Pöbel stirbt.“ Und Menschenstolz ist es, der jenen Weidespruch gemacht hat, den man auf dem Postwagen die Schaffner, wenn sie sich zu lange beim Schenkwirte verweilt haben, oft den Postknechten zurufen hört: „Fahr zu! Es sind nur Pferde.“ Menschenstolz ist es, wenn einfältige Menschen glauben, man dürfe ein Tier nicht mit dem Menschen vergleichen, und daher „Gott verzeih mir meine Sünde!“ sagen, wenn sie einen solchen Vergleich angestellt haben. Menschenstolz ist es endlich, wenn wir auf unsere Verwandtschaft mit dem Himmel pochen, und wenn Philosophen sogar für diesen pharisäischen Familienstolze blind gegen den Geburtsbrief sind, den auch das geringste Geschöpf von Gott hat. Und taub gegen das laute Recht desselben sind, dass jedes Geschöpf Gottes, sobald und solange es lebt, dasselbe Recht wie wir, auf Lebensglück hat, und dass sich aus diesem Tierrechte notwendigerweise die Menschenpflicht ergibt, die Tiere wenigstens nicht elend zu machen. Und dieses ist das Ungeheuer, das mit dem einen Fuße die schuldlosen Tiere mutwillig zertritt und mit dem anderen auf dem Nacken der Menschheit selbst steht, die ich vor deinem Richterstuhle, oh Menschlichkeit, anklage, dessen Frechheit und Unfug zu steuern dir obliegt.

Werk der Natur ist es zwar, dass wir Menschen eine willige Anlage zu einer vorteilhaften Meinung von uns haben, und die Bildung dieser Anlage zum richtigen Ehrgefühle, dass wir zu Vormündern der uns untergeordneten Tiere bestimmt sind, dürfte wohl keine so große Unbilligkeiten gegen diese Tiere zur Folge haben. Aber die falsche Richtung dieser Anlage, um uns aufzublähen, und alles, was nicht Menschengestalt hat, uns verächtlich zu machen – das ist das Werk des in sich verliebten Menschen.

Alle Schulen teilen Brillen aus, in welche für die teure Menschheit ein Vergrößerungsglas, für die übrige Tierheit hingegen ein Verkleinerungsglas geschliffen ist: Und weil unseren pädagogischen Einrichtungen zufolge die junge Menschheit erst durch diese Brillen sehen muss, ehe sie sich in der Schöpfung selbst frei umsehen darf, so ist es kein Wunder, dass die dieser optischen Werkzeuge gewohnten Menschen in der Folge ohne sie nicht sehen können, und dass sogar Philosophen ihr Auge mehr auf den vergrößerten als auf den verkleinerten Gegenstand heften und folglich über das Verhältnis des Menschen zu den Tieren sehr parteiische Urteile zu fällen pflegen.

Menschenvernunft

„Sobald die Fantasie stillsteht,
geht die Vernunft bloß an der Stütze der Rebe.“

Die menschliche Einbildung macht sich gewöhnlich ein Ideal von der Vernunft, und sobald sie damit fertig ist, kommt die menschliche Eitelkeit und eignet sich sofort dieses Ideal an und spricht es den Tieren ab. Freilich haben die Tiere diese idealische Vernunft nicht, aber die Menschen haben sie auch nicht.

Wenn wir in Hinsicht auf die Menschheit fragen, was Vernunft ist, so müssen wir nicht wissen wollen, was absolute oder idealische Vernunft ist, sondern wir müssen fragen: Was ist die hypothetische Vernunft, die mit der Menschenorganisation verwebt ist – was ist Menschenvernunft?

Schon daraus, dass unsere Seele mit einer Menschenorganisation gemischt ist, ergibt sich, dass die Seelenäußerung, die wir bei uns Vernunft nennen, schwerlich reine Vernunft sein kann. Denn schon in spekulativer Hinsicht sind die Blitze, die sich zuweilen in den Dünsten unseres Wissens entzünden und nur auf Augenblicke ein zuckendes Licht über den Horizont unseres Standpunkts werfen, noch lange kein helles, anhaltendes Sonnenlicht, das den ganzen Prospekt mit all seinen Partien, Gruppen und Farben erleuchtet: Und sahen die elektrischen Köpfe, in welchen jene Blitze zuckten, in der augenblicklichen Beleuchtung wohl mehr als einige spielende Wellen des reinen Vernunftstroms?

Konnten sie uns aus dieser blitzschnellen Erscheinung mit Gewissheit sagen, in wie viel Arme jener Ausfluss des Urlichts sich verbreitete? Und ob der Strom, der auf die organisierte Materie ausgeflossen ist, bloß in dem Strudel der Menschheit versiegt oder ob er sich mit dem Ozean der gesamten Tierheit mischt?

Selbst die Kategorien und die sonstigen abstrakten Ideen, die von der Reinheit unserer Vernunft zeugen sollen, existieren, wie Sulzer sagt, bloß vermittelt ihrer Zeichen in dem Verstande, und würden ebenso wenig darin existieren, wenn wir keine Zeichen hätten, um sie festzuhalten. Wo ist der Metaphysiker, der, wenn er sich mit abgezogenen Ideen beschäftigt, seiner Vernunft nicht durch Bild und Überschrift zu Hilfe kommen müsste? Sobald die Fantasie stillsteht, sagt Rousseau, geht die Vernunft bloß an der Stütze der Rebe.

Vernunft und Instinkt

„Die gemeinsten Erfahrungen beweisen, dass die Tiere so wenig alles nach Instinkt, als die Menschen alles nach Vernunft handeln.“

Was ist denn nun wohl die hypothetische Vernunft, die wir armen Menschen uns bei all unseren Vorurteilen und Torheiten beimessen können, ohne von der Erfahrung Lügen gestraft zu werden, ohne uns des Menschendünkels verdächtig zu machen?

Dass sie keine reine Vernunft ist, und dass wir überhaupt diese Frage nicht so anmaßend wie Wolff beantworten dürfen, haben wir soeben gesehen. Wir wollen uns auch bei den übrigen Definitionen der Schulen nicht aufhalten, die uns nicht sowohl von dem Wesen unserer Vernunft unterrichten, sondern durch ihre Verschiedenheit vielmehr beweisen, dass wir eigentlich noch nicht wissen, was das ist, worauf wir uns so brüsten. Wir wollen nur dieses bemerken, dass Reimarus der Wahrheit am nächsten zu kommen scheint, wenn er sagt: Vernunft ist die Fähigkeit der Seele, Ähnlichkeit und Verschiedenheit oder Einstimmung und Widerspruch einzusehen.

Kommt diese Erklärung der Sache näher, so kommen uns auch die verachteten Tiere näher an die Seele. Denn wenn wir mit dieser Erklärung uns zu den Tieren herabzulassen geruhen und in der allgemeinen Geschichte der Reisen lesen, dass diejenigen, die auf den Affenfang in Afrika ausgehen, diesen Tieren einerlei Schlinge nie zweimal legen dürfen und wissen, dass jene berühmten Baumeister in Nordamerika, die Biber, wenn sie an Flüsse bauen, dein plötzlichen Anschwellen des Flusswassers durch achtzig bis hundert Fuß lange Damme und oben angebrachte Schleusen vorbeugen, und selbst diese Öffnungen nach dem Steigen oder Fallen des Wassers weiter oder enger anlegen. Damm und Schleusen hingegen weglassen, sobald sie an einen See bauen, in welchem sich die Höhe des Wassers nicht viel und nur langsam zu ändern pflegt und finden, dass das Pferd sogleich weiß, ob der Reiter, der es bestiegen hat, seines mächtig ist oder nicht? Und dass es nach diesem Befinden entweder die mindeste Schenkelanlegung des Reiters befolgt oder trotz Stangengebiss, Sporen und Peitsche mit dem unkundigen Ritter durchgeht, sodass er, wie jener Feldprediger, der des Generals Pferd bestiegen hatte, auf die Frage, wohin er wolle, antworten muss: „Das weiß Gott und mein Pferd“. Und sehen, dass Trappen, wilde Gänse und Enten den Wanderer, der weiter keine Wehr als seinen Wanderstab hat, wohl auf fünfzig Schritte und noch näher sich kommen lassen, ehe sie auffliegen, dass ihnen hingegen keiner, der mit einer Flinte bewaffnet ist, so nahe kommen darf – so müssen wir doch auch einräumen, dass der Affe die vorhin gelegte Schlinge von der jetzigen, dass die Biber das Flussufer vom Seeufer, dass das Pferd den guten Reiter vom schlechten, dass die Trappen und Wasservögel das Spazicrrohr vom Feuerrohre, den friedlichen Wanderer vom Jäger zu unterscheiden wissen. Und was heißt das anderes, als dass ihre Seele die Fähigkeit, Ähnlichkeit und Verschiedenheit hat einzusehen, die Fähigkeit, den gegenwärtigen Fall mit vorigen Fällen zu vergleichen und sich danach zu benehmen? Und ist das nicht ebenso gut bei der Tier- wie bei der Menschenseele Vernunft?

„Instinkt – fällt uns hier der Menschenstolz, der sich dieser Verwandtschaft schämt, ängstlich ins Wort – Instinkt, nicht Vernunft ist es! Die Tiere tun alles nach dem ihnen angeborenen Instinkte, nur der Mensch tut und handelt nach Vernunft.“

Dieser beliebte Spruch, den man sich so gern nachsagt, hat nur den kleinen Fehler, dass er nicht wahr ist: Denn die gemeinsten Erfahrungen beweisen, dass die Tiere so wenig alles nach Instinkt, wie die Menschen alles nach Vernunft handeln.

Der Schwelger zum Beispiel weiß, dass er sich Züchtigungen der Natur zuzieht, wenn er seine Lüsternheit bei dem Reize niedlicher Gerichte und Getränke nicht zähmt. Der gefräßige Hund weiß auch, dass er sich Züchtigungen der Menschen zuzieht, wenn er seinen Hunger mit Speisen befriedigt, derer er zwar habhaft werden kann, die aber nicht für ihn dastehen. Ist das nun Instinkt, dass Hunde bei dem besten Appetit und bei der besten Gelegenheit ihn zu befriedigen, dennoch nicht das Mindeste anrühren? Ist das hingegen Vernunft, dass Menschen, auch wenn sie schon gesättigt sind, weiter schwelgen? Dass sie bei den Warnungen des Arztes, sogar unter den Höllenschmerzen des Podagra, noch sagen können: „Ich esse, was mir schmeckt und leide, was ich kann“?